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Evidenzbasierte Medizin – wo bleibt hier die Qualität?, Gesellschaft der Ärzte

Evidenzbasierte Medizin – wo bleibt hier die Qualität?

Qualitätssicherung war Thema des 62. Gesundheitspolitischen Forums und der Karl-Landsteiner-Gesellschaft, die sich auf diesem Gebiet zu einem österreichischen Thinktank entwickelt haben.

Finanziert werden soll, wie es Gottfried Endel vom Hauptverband der Sozialversicherungen eindrucksvoll darlegte, was mittels evidenzbasierter Medizin (EBM) belegt ist. Wie die Praxis erfolgreicher Qualitätssicherung aussieht, hat Thomas Szekeres von der Wiener Ärztekammer gezeigt, der als Labormediziner mit dieser Thematik bestens vertraut ist. Bei der anschließenden engagierten Diskussion traten sie dann zutage: die divergierenden, teils völlig konträren Meinungen darüber, was Qualität in der Medizin eigentlich sein soll. Frei nach Churchill formuliert: EBM ist eine schlechte Medizin, aber wir haben keine bessere. Unbestritten hat EBM große Vorteile, weil Standards transparent anwendbar sind und sich die Überfülle neuer Information am sog. Point-of-Care praxisgerecht bündeln lässt. Klinische Wissenschaftler sollten sich bei der Nase nehmen. Denn wer danach sucht, kennt die Enttäuschung darüber, dass es viel zu wenig systematische Studien gibt, die Antworten auf dringende Fragen geben könnten.

Evidenz hat eine mehrfache Wortbedeutung. Ohne den angloamerikanischen Schöpfern der EBM unterstellen zu wollen, diese Begrifflichkeiten absichtlich zu vermengen: Die Definition von Evidenz ist nicht wirklich evident (lat. evidens – augenscheinlich). Das alte Wort aus dem 19. Jahrhundert klingt geheimnisvoll (das kaiserliche Evidenzbüro war der Geheimdienst). Mit medizinischer Evidenz ist das Resultat einer Validierung gemeint, d. h. wenn in systematischer klinischer Forschung die Genauigkeit bzw. Wirksamkeit einer Maßnahme, vor allem ihre Pretest-Wahrscheinlichkeit, festgelegt wurde. Damit ist klar: Wer EBM betreibt bzw. danach handelt, tut sehr viel Gutes, das viel Geld bzw. Zeit kostet und nur in vordefinierten Bereichen relevant ist. Bei zahlreichen Fragen ist EBM unverzichtbar geworden. Andererseits nützt sie nicht viel, vor allem wenn der Fortschritt so rasch ist, dass die Evidenz, bevor man sie nach mehrjähriger Forschung hat, nicht mehr aktuell ist. Oder wenn tolle statistische Berechnungen von der klinisch tätigen Ärzteschaft, weil wenig hilfreich, nicht angenommen werden.

Die Krise der EBM, wie sie kürzlich im Britisch Medical Journal konstatiert wurde, könnte uns in den kommenden Jahren begleiten (1). Wer ausschließlich nach EBM-Leitlinien handelt, schöpft das große Potential der Medizin als Wissenschaft, aber auch als Heilkunst nicht aus. Die vielfältigen persönlichen Erfahrungen des ärztlichen Berufslebens, soll all das dem Primat der EBM untergeordnet werden? Und ist evidenzbasiertes Wissen nicht nur die Spitze des riesigen Eisbergs ärztlicher Kunst, die hauptsächlich aus Intuition besteht? Ein guter Koch hält sich nicht nur an die evident besten Rezepte, sondern weiß aus Erfahrung und Intuition, was schmeckt.

Das Denken in ROC-Kurven ist das zweite, das der Diskussion um EBM fehlt. Receiver Operating Characteristics ist ein Kennwert aus der Radiotechnik, um die Trennung des empfangenen Tons vom Rauschen zu beschreiben. Charles Metz, ein in der Radiologie arbeitender Physiker in Chicago (der übrigens ein großer Liebhaber der Wiener Gastronomie war) hat diese Form quantitativer Darstellung des Signal: Rausch-Verhältnisses in die Medizin eingeführt (2). Wie beim Feintunen des Radiosignals lässt sich mit dieser Analysemethode die diagnostische Aussagekraft optimieren.

EBM ist eine Kochrezeptmedizin, vielfach wird sie zur Absicherung drohender Klagen verwendet. Sie ist ein Teilaspekt ärztlicher Entscheidungen, die viel mehr intuitiv und empirisch getroffen werden als EBM-basiert. Mit EBM kann man sie tunen, sicher nicht feintunen. Um das zu erreichen, ist das Heraufbeschwören einer Renaissance der EBM zu wenig. Notwendig sind Formen des Informationsaustauschs so komplex wie medizinische Entscheidungen eben sind, also Simulationen oder einen ganzheitlichen medizinischen Diskurs (nachzulesen in Michel Foucaults Schriften). Letzterer beeinflusst, auch das sollte evident sein, die klinische Medizin viel stärker als der Minimundus der evidenzbasierten Medizin. Es wäre an der Zeit, das mittlerweile 25 Jahre alte, damals neue und wirklich paradigmatische Konzept auf klare Schwerpunkte zu reduzieren und in eine holistische Diagnosetrias zu integrieren, die Intuition, Empirie und EBM gleichermaßen würdigt.

    1. Greenhalgh T, Howick J, Maskrey N. Evidence based medicine: a movement in crisis? BMJ2014;348:g3725.
    2. Metz CE, Goodenough DJ, Rossmann K. Evaluation of receiver operating characteristic curve data in terms of information theory, with applications in radiography. Radiology. 1973 Nov;109(2):297-303


Die Gesellschaft der Ärzte fühlt sich dem medizinischen Diskurs verpflichtet und bietet mit ihrem neuen Programm für das Wintersemester 2014/15 neben den traditionellen State-of-the-Art-Veranstaltungen eine Reihe neuer Veranstaltungsformate an. Zum Veranstaltungskalender >>

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Univ.-Prof. Dr. Franz Kainberger

Text:
Univ.-Prof. Dr. Franz Kainberger
(Präsident der Gesellschaft der Ärzte)

(Der Beitrag ist die persönliche Meinung des Autors)