Bitte aktivieren Sie JavaScript, damit Sie die Webseite einwandfrei benutzen können!

Folgende Links helfen Ihnen JavaScript für Ihren Browser zu aktivieren:
Im Jahr 3 nach Fukushima soll Europa ein neues Atomkraftwerk bekommen, Gesellschaft der Ärzte

Im Jahr 3 nach Fukushima soll Europa ein neues Atomkraftwerk bekommen

Hinkley Point C, so heißt das neue Atomkraftwerk, das in der südwestenglischen Grafschaft Somerset jetzt errichtet werden soll. Jedenfalls hat es der zuständige EU-Kommissar dieser Tage so entschieden. Dieser Beitrag soll keine Stellungnahme pro oder kontra „friedliche Nutzung der Atomkraft“ sein, wie es so schön im historisch gewachsenen europäischen Sprachgebrauch heißt. Vielmehr haben Mediziner die Aufgabe, ihr Faktenwissen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, um eine sachliche gesellschaftspolitische Diskussion zu unterstützen. Und man konnte einige Schlüsse ziehen, nachdem sich die Menschheit insgesamt sieben solcher Experimente (1) geleistet hat, nämlich Atomkraftwerke halb oder ganz in die Luft fliegen zu lassen.

Faktum 1 – die medizinische Erstversorgung: Atomunfälle erfordern eine andere Erstversorgung als andere Notfälle. Bei derartigen Katastrophen sind die regionalen Krankenhäuser überfüllt. Das Personal ist auf die beiden wichtigsten und einfach umzusetzenden Maßnahmen, Dekontamination und psychologische Betreuung, nur unzureichend vorbereitet.

Faktum 2 – psychische bzw. sozialpsychiatrische Probleme: Sie gehören zu den wichtigen Kurz- und Langzeitfolgen. Anders als bei einer Naturkatastrophe wie einem Erdbeben nehmen die Betroffenen die nachteiligen Folgen nicht einfach als gottgegeben hin.

Faktum 3 – die emotionale Belastung der Weltbevölkerung: Studien haben gezeigt, dass die Geburtenrate in den Monaten nach den Ereignissen in Tschernobyl signifikant absank, und zwar unabhängig vom radioaktiven Fallout. Zumindest ein Teil davon ist auf mehr Schwangerschaftsabbrüche zurück zu führen, allerdings fehlt vielerorts eine dafür ausreichende statistische Erfassung. Das bedeutet, nicht die Radioaktivität direkt, sondern ihre indirekten Wirkungen beeinflussten die Geburtenrate. Ein entscheidender Faktor ist die widersprüchliche Informationspolitik, auch weil bei den bisherigen Reaktorunglücken menschliches Versagen eine Rolle spielte, so dass eine offene Diskussion erst Jahre bis Jahrzehnte später stattfand.

Faktum 4 – die Rettungsmaßnahmen: Sie sind, zumindest für Europa wurde dies exemplarisch anhand der Schweiz untersucht, nur ansatzweise durchführbar. Da Rettungsmannschaften nur tätig werden dürfen, wenn für sie selbst keine Gefahr besteht, lässt sich bei Reaktorunglücken lediglich eine begrenzte Anzahl Freiwilliger rekrutieren, die diese Regel missachtend den Unglücksort betreten. Zudem werden in Ballungszentren durch die fliehende Bevölkerung die Zufahrten tagelang unpassierbar sein.

Faktum 5 – die Umweltverschmutzung: Durch den starken Verdünnungseffekt des Fallouts ist die Kontamination der Nahrungskette vergleichsweise niedrig, auch weil die Wetterlage bei den bisherigen Ereignissen meist günstig war. Da mit hochsensiblen Messgeräten heute bereits geringste Mengen radioaktiver Substanzen nachgewiesen werden können, wird dieser Effekt, weil auch medial inadäquat kommuniziert, tendenziell überschätzt.

Faktum 6 – die Prävention: Da der Mensch Strahlung mit seinen nicht wahrnehmen kann, wäre eine langfristige sensible Informationskampagne die einzig adäquate Maßnahme. Nur fand sie nie statt. Gleiches gilt für Aktivitäten zur Lebensstilmedizin, um den Energieverbrauch zu reduzieren.

Anhand dieser Faktenlage ist zu konstatieren: aus medizinischer Sicht ist – und nochmals sei betont, dass an dieser Stelle politische Überlegungen keine Rolle spielen sollen – ein neues Atomkraftwerk in Europa nicht zu empfehlen.

1) Die bisherigen nach INES 5 – 7 eingestuften Unglücke von Atomreaktoren waren Chalk River/Kanada 1952, Majak/UDSSR 1957, Windscale-Sellafield/U. K. 1957, Lucens/Schweiz 1969, Three Mile Island/U.S.A. 1979, Tschernobyl/UDSSR 1986 und Goiânia/Brasilien 1987

Den Mitgliedern der Gesellschaft der Ärzte stehen die anlässlich der Diskussion um Fukushima gesammelten Darstellungen zu den medizinischen Aspekten eines Strahlenunfalls in der Videothek von www.billrothhaus.tv zur Verfügung.

Weitere Artikel zu diesem Thema:
Atomenergie: Großbritannien darf AKW-Neubau subventionieren (Die Presse) >>
EU genehmigt wieder Beihilfe für AKW-Neubau (Kurier) >>
"Die wissen offenbar, was sie tun" (Kleine Zeitung) >>
Lage in Fukushima bleibt kritisch: Arbeiter verstrahlt (Die Presse) >>
Flüssigkeitszufuhr als erste Maßnahme (Der Standard) >>
"Die Menschen sind nicht zum Tode verurteilt" (Der Standard) >>

Univ.-Prof. Dr. Franz Kainberger

Text:
Univ.-Prof. Dr. Franz Kainberger
(Präsident der Gesellschaft der Ärzte)

Der Beitrag ist die persönliche Meinung des Autors!